Karsten Lemm

All-Tage bei der NASA

April 5, 2013
April 5, 2013
NASA’s Jet Propulsion Laboratory in Pasadena

Das Jet Propulsion Laboratory in Pasadena bei Los Angeles

Wenn Forscher, die von fremden Welten träumen, in den Himmel kommen, landen sie beim JPL in Kalifornien: Seit mehr als 50 Jahren erkundet das NASA-Institut Sonne, Mond und Sterne – als Pfadfinder für die ganze Menschheit und oft mit Hilfe auch aus Deutschland

Freitage mag Brian Wilcox nicht besonders. Freitage sind der Anfang vom Wochenende. Zwei Tage frei, zwei Tage ohne Arbeit – wer braucht das schon? „Ich liebe es, morgens zur Arbeit zu kommen“, sagt der Kalifornier. Spätestens um 6:30 Uhr ist er am Platz. Er lebt mit seiner Familie keine drei Kilometer entfernt, denn er will im Labor stehen, nicht im Stau. „Ich sage immer zu meinen Töchtern: Sucht euch einen Job, den ihr richtig lieb habt“, erzählt Wilcox, „einen, bei dem ihr gar nicht erwarten könnt, dass das Wochenende vorbei ist.“

Brian Wilcox hat ihn gefunden. Er ist Roboter-Spezialist am Jet Propulsion Laboratory in Pasadena, dem größten Abenteuerspielplatz für Wissenschaftler, die vom Weltall träumen, den es gibt auf der Welt. Jedenfalls auf dieser Welt. Seit genau 50 Jahren gehört das JPL, das ursprünglich als Raketenforschungslabor gegründet wurde, zur US-Weltraumbehörde NASA. Seit genau 50 Jahren dürfen Männer wie Wilcox (und einige Frauen) hier, in einem malerischen Tal am Stadtrand von Los Angeles, in die Sterne schauen, Apparate bauen, die zu fernen Planeten fliegen, und überhaupt nach Herzenslust ihre Science-Fiction-Fantasien ausleben – während sie nebenbei die Menschheit voranbringen, mal in kleinen, mal in großen Schritten.

Dieser Artikel entstand ursprünglich im Herbst 2008 für den Stern, wurde aber nie gedruckt. Kann vorkommen – das aktuelle Mischen der Themen verlangt Überproduktion. Trotzdem schade, fand ich immer. Deshalb hier der Text als long read im Netz. Alle Fotos von mir: © Karsten Lemm

NASA-Sonde, Jet Propulsion LaboratoryEs war die JPL-Sonde „Mariner 2“, die als erste Messdaten von der Venus zur Erde funkte; es waren die JPL-Zwillinge „Viking“ 1 und 2, die als erste Abgesandte der Menschheit auf dem Mars landeten; und es sind zwei Überlebenskünstler aus Pasadena, die Mars-Rover „Spirit“ und „Opportunity“, die seit fast vier Jahren auf unserem Nachbarplaneten herumkurven und wertvolle Daten sammeln – weit länger als geplant. Oft arbeiten die etwa 5000 JPL-Mitarbeiter in Pasadena mit Kollegen rund um die Welt zusammen, etwa der europäischen Raumfahrtagentur ESA: In transatlantischer Kooperation erkunden die Forscher der Cassini-Huygens-Mission derzeit den Saturn.

Wilcox kümmert sich derweil um die nächste Mondlandung. Ein Datum dafür steht noch nicht fest, aber klar ist: Die Astronauten werden einen Lastenesel brauchen wie „Athlete“, einen neuartigen, sechsbeinigen Transport-Roboter, den Wilcox mit seinen Mitarbeitern in einer kargen, neonbeleuchteten Werkshalle zusammenschraubt. „An guten Tagen darf ich basteln“, sagt der 56-jährige Ingenieur, der genau so aussieht, wie die Filmemacher im nahen Hollywood sich einen Erfinder immer vorstellen: Die altertümliche Brille sitzt etwas schief auf der Nase, am Arm blitzt eine Plastikuhr mit Digitalanzeige, aus der Hemdtasche ragen die Köpfe von Kugelschreibern. Das Haar ist zerzaust, der Blick hellwach.

Brian Wilcox mit einem Prototypen des „Athlete“-Roboters„Es geht darum, ein Fahrzeug zu bauen, das nicht nur rollen, sondern in extremem Gelände auch gehen kann“, erklärt Wilcox. Ein Prototyp steht neben ihm: Reifen, die dem Entwickler bis zu den Knien reichen, hängen an Metallbeinen, die krakenhaft am Rumpf in der Mitte zusammenlaufen und Gelenke besitzen, um das Gefährt beweglicher zu machen als den durchschnittlichen Vorstadt-Kalifornier. Mondkrater, Treibsand, Geröllfelder, Steilhänge – nichts darf Athlete aus dem Tritt bringen. Und sollte doch einmal ein Malheur passieren, lässt sich notfalls per Fernbedienung ein Bein amputieren. „Dann wird aus dem Sechseck eben ein Fünfeck“, sagt Wilcox. Aber die Mission kann weitergehen.

Athlete ist ein typisches JPL-Projekt: Es verbindet eine große Vision, die den Erfindergeist herausfordert, mit praktischem Nutzen, musste sich im Kampf um Fördergelder gegen etliche Konkurrenzvorschläge durchsetzen – und verlangt einen sehr langen Atem. Vor 2020 wird wohl keine neue Mondmission abheben, und auch Athlete wird, trotz jahrelanger Arbeit, noch lange nicht so weit sein, dass er ins All starten könnte: „Wir sind vielleicht fünf Prozent auf dem Weg dorthin“, sagt Wilcox. Erst muss er nun ein 1:1-Modell bauen – sein jetziger Prototyp ist kleiner, um Geld und Platz zu sparen. Dann folgen Tests, neue Kostenschätzungen, der Bau eines Roboters im Reinraum, und irgendwann, wenn alles gut geht, einer der Raketenstarts in Florida, die Wilcox in Jugendjahren mit beinahe religiöser Hingabe mitverfolgte. „Dies ist kein Beruf für Ungeduldige“, sagt der Wissenschaftler, lacht und erzählt von seiner eigenen Reaktion, als er 1982 zum JPL kam: „Ich dachte: Das ist komplett verrückt! Wie kann man 16 Jahre an einem einzigen Projekt arbeiten?“ Die Antwort fand er bald selbst: „Es ist einfach ausgesprochen spannende Arbeit.“

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Wo sonst wird man dafür bezahlt, die Träume seiner Kindheit auszuleben? Fragen zu beantworten, die so alt sind wie die Menschheit – etwa: Gibt es da draußen noch anderes Leben? Neues zu erfinden, das alles Dagewesene in den Schatten stellt? Die formationsfliegenden Sonden in Gebäude 199 sind so ein Fall, bei dem alles zusammenkommt. Der Weg zu ihnen führt vorbei an Schotterplätzen und Grasflächen, betagten Baracken und modernen Glastürmen, Labors und Werkstätten sowie vielen Kanistern, Schläuchen, Gasflaschen. Das JPL hat eine eigene kleine Fabrik, in der gefräst, geschleift und Kunststoffe in Form gegossen werden; es gibt einen Reinraum und natürlich eine Kommandozentrale, die an die Brücke im „Raumschiff Enterprise“ erinnert: Rund um die Uhr halten dort wachsame Augen die Signale aus dem „Deep Space Network“ im Blick, damit nichts von dem, was diverse Sonden aus dem All zur Erde funken, verlorengeht.

Gebäude 199 ist eines der älteren, ein weißer Waschbetonbunker, vor dem zwei Elektromobile parken, die an Golfkarts erinnern – eine beliebte Methode, sich auf dem weitläufigen Gelände fortzubewegen. Drinnen ist es düster, und unter künstlichem Sternenlicht schweben zwei Metallwesen über ein Testfeld, getragen von einem Luftkissen, das dünner ist als ein Tausendstel Millimeter. Beide tragen schwer an Messinstrumenten, wiegen jeweils über 360 Kilo und lassen sich doch reibungslos mit höchster Präzision über das Luftbett steuern. Nur so kann es gelingen, auf kalifornischem Boden ein Teleskop zu entwickeln, das – wenn alles gutgeht – eines Tages tiefer ins All hineinschauen wird als jeder andere Späher, den die Menschheit bisher entwickelt hat.

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Verglichen hiermit wäre Hubble ein Spielzeug“, verspricht Fred Hadaegh, Leiter des „Formation Control“-Projekts, mit Blick auf das derzeit leistungsfähigste Teleskop der Welt, das seit 1990 bahnbrechende Erkenntnisse über die Entwicklung des Universums liefert. Den Quantensprung des Wissens, den sich Hadaegh von seinem Teleskop der Zukunft erhofft, soll ein Designtrick ermöglichen: Je größer die Antenne, um so besser lassen sich auch schwächste Signale aus weiter Entfernung einfangen – doch wer sagt, dass man eine einzelne Antenne nutzen muss? Warum nicht mehrere zusammenschalten? Dann könnte man die Größe nach Belieben verändern, je nachdem, wieviel Abstand die Antennen zueinander halten.

Im Prinzip funktioniert das, vor Jahren schon hat Hadaegh das nachgewiesen; doch der Teufel steckt in vielen Details: Die Antennen wären wie Ballett-Tänzer, die frei im Raum schweben, sich um alle Achsen drehen können – und doch immer im Einklang bleiben müssen, um am Ende ein klares Bild und präzise Messdaten zu liefern. „Stellen Sie sich vor Sie sollten nicht nur Ihre eigenen Schritte ausführen, sondern auch ahnen, was alle anderen als nächstes tun, und Sie sind sechst“, erklärt der 55-jährige NASA-Veteran. „Sie müssen sich auf Zentimeter nahe kommen können, aber auch auf weite Entfernung verstehen. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.“

Zum Glück gibt es motivierte, hochbegabte Uni-Absolventen wie Daniel Scharf, die von kleinauf nichts anderes im Sinn hatten, als ins All aufzubrechen. Mit zwölf sah der promovierte Luftfahrtingenieur einen „Dr. So-und-So vom JPL“ im Fernsehen, der den Vorbeiflug der „Voyager 2“-Sonde am Uranus erklärte, und Scharf hatte sein Erweckungsmoment: „Ich dachte: Das ist Abenteuer!“, erinnert sich der heute 35-Jährige, und für ihn stand fest: „Ich gehe zum JPL, da arbeiten die Besten der Besten.“ Es mag geholfen haben, dass der Vater, ebenfalls Luftfahrtingenieur, die Gespräche daheim gern auf Themen lenkte wie Lichtgeschwindigkeit, Wellenlängen und Frequenzen; genau wie der kleine Daniel die Romane von Sciencie-Fiction-Größen wie Robert Heinlein verschlang – zumindest ist er heute dort, wo er immer hinwollte: „Ich bin direkt von der Uni in meinen Traumberuf spaziert“, freut er sich.

Mars-Orbiter-Modell beim „Tag der offenen Tür“ am JPL

Mars-Orbiter-Modell beim „Tag der offenen Tür“ am JPL

Scharfs Hauptaufgabe besteht im Augenblick darin, die Steuersoftware für die Antennen zu optimieren und das Gewicht der Metallkolosse zu reduzieren. Es kostet über 100.000 Euro, ein Kilo Last ins All zu schießen; deshalb wird das Teleskop bis ins kleinste Detail am Boden entwickelt und getestet, und deshalb zählt jedes Gramm. „Wenn ich helfen kann, ein paar Pfund Gewicht zu sparen“, erklärt Scharf, „habe ich mein Gehalt auf Lebenszeit schon herausgeholt.“

Solches Denken freut diejenigen am JPL, die sich mit den Finanzen herumplagen müssen. Bei allen wissenschaftlichen Durchbrüchen hängen die Forscher am Tropf der Steuerzahler: Formell ist das NASA-Institut der privaten Caltech-Universität angegliedert, muss sich sein Geld aber beim Kongress in Washington besorgen. „Geld ist ein wichtiges Thema“, sagt Richard Grammier. „Man versichert vertraglich, sich an einen bestimmten Betrag zu halten – wer sein Budget überzieht, gefährdet womöglich andere Projekte.“ Grammier hat für „Juno“ 700 Millionen Dollar bewilligt bekommen, eine für 2011 geplante Erkundungsmission zum Jupiter. Es geht um die Rolle, die solche Gasgiganten bei der Entstehung von Planeten wie der Erde spielen. „Jupiter ist der Schlüssel zum Verständnis unseres Sonnensystems“, sagt der 53-Jährige, als stellvertretender Direktor verantwortlich für Koordination und Planung der Mission.

Grammier ist ein Mann in Schlips und Kragen, ein ehemaliger Marinesoldat mit sorgfältig gestutztem Oberlippenbart, der sich weniger als Möchtegern-Raumfahrer und Entdecker sieht, sondern als derjenige, der den Visionären hilft, ihr Ziel zu erreichen. „Die Wissenschaftler entwickeln ihre Ideen, sagen, was sie brauchen, und wir Techniker ermöglichen ihnen die Umsetzung“, erklärt Grammier. Eine Seite des JPL könnte ohne die andere nicht existieren, und gemeinsam ernten sie am Ende die Früchte des Erfolgs: „Die Gesichter zu sehen, wenn Ergebnisse hereinkommen, das ist ein unglaubliches Gefühl“, schwärmt der sonst so nüchterne Grammier. „Ich helfe wohl meinen Kollegen, lebenslange Träume zu erfüllen.“

Mars Rover, JPL

Ein Modell der Mars-Rover beim „Tag der offenen Tür“ am JPL

An Juno beteiligen sich Universitäten in Texas und Wisconsin, gebaut wird die Sonde von Lockheed Martin, und einige Komponenten für die Telekommunikation stammen aus Deutschland. Fast 250 Menschen alles in allem, „eine sehr breit gefächerte Gruppe aus aller Welt“, sagt Grammier, und bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Das kann schlauchen, besonders wenn man morgens um 4 Uhr aufsteht, um zwei Stunden später im Büro zu sein – Grammier, Vater von fünf Kindern, lebt gern im Grünen und hat einen lange Anfahrt. Doch die Belohnung, findet er, wartet jeden Tag aufs Neue auf ihn, wenn er sich in die Arbeit stürzt. „Unsere Missionen sind einzigartig“, sagt er, „es gibt nichts Vergleichbares. Wer sonst macht, was wir tun?“

Bis ins Wochenende allerdings reicht seine Begeisterung nicht. Da will er abschalten: Sport machen, Zeit mit seiner Familie verbringen – ausschlafen. Und obwohl er seine Frau am JPL kennengelernt hat, vermeidet Grammier zu Hause All-umfassende Themen, die ihn gleich wieder zurück in Umlaufbahn der NASA holen würden. „Man muss versuchen, die Balance zu halten“, erklärt er. Lieber lässt er sich beim Abendessen erzählen, was seine Kinder tagsüber auf diesem Planeten erlebt haben. „Es ist gut, wenn einen jemand daran erinnert, dass es auch noch ein Leben jenseits der Arbeit gibt“, sagt Grammier.

So spricht die linke Gehirnhälfte des JPL, der Verstand – die rechte, gepackt von der Leidenschaft, das Universum jenseits des Bekannten zu erkunden, kennt keinen Feierabend und keine Wochenenden. „Ich komme niemals wirklich nach Hause“, sagt Brian Wilcox, der Entwickler des Athlete-Mondmobils. „Dies ist die Welt, die ich lebe und atme.“ Das ist nur konsequent: Seine jüngste Kindheitserinnerung ist der Start des Sowjet-Satelliten „Sputnik“, der im Oktober 1957 Amerika erschütterte und zum Urknall für die Gründung der NASA wurde.

Das Besucherzentrum des JPL

Ein Blick ins Besucherzentrum

Wilcox’ Vater arbeitete damals als Luftfahrtingenieur auf einer Militärbasis am Rande der Mojave-Wüste, und der Sohnemann starrte gemeinsam mit dem Papa fasziniert in den Himmel, während „Sputnik“ künstliche Leuchtspuren ans Firmament zeichnete. Das Wettrennen im Weltall, das sich daraus ergab, erlebte Wilcox hautnah mit: „In der Schule hörten wir viele Male am Tag den Überschallknall der Raketentests“, erzählt Wilcox. Alle Fenster wackelten, aber das kümmerte niemanden. „Es war ja ganz normal.“

Wer kann es Wilcox da verdenken, dass ihn das zivile Freizeitleben eher langweilt? Eine Weile hat er versucht, sich daheim für ein Hobby-Teleskop zu begeistern, um mehr Zeit bei seiner Familie zu verbringen – aber auch das funktionierte nicht recht. „Wenn man Vergleichbares sehen möchte zu dem, was heute viele Internetseiten zeigen, braucht man ein enorm großes Teleskop“, klagt Wilcox. „Am Ende denke ich deshalb meist doch wieder über Dinge nach, die einmal ins All reisen könnten.“

So richtig schön ist es eben nur am Arbeitsplatz – jedenfalls, wenn man dort den Himmel auf Erden gefunden hat.

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